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Mensch ärgere Dich nicht als Google-Doodle / Marketingkampagne während des Ersten Weltkriegs

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SpieLama
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Mensch ärgere Dich nicht als Google-Doodle / Marketingkampagne während des Ersten Weltkriegs

Beitragvon SpieLama » 24. November 2017, 07:04

Google hat heute ein "Mensch ärgere Dich nicht"-Doodle veröffentlicht. Das Brettspiel zählt bekanntlich zu den Klassikern unter den deutschen Brettspielen und ist ein Abkömmling des indischen Spiels Pachisi. Seinen Erfolg verdankt der Klassiker einer ungewöhnlichen Marketingkampagne während des Ersten Weltkriegs.

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Foto Schmidt Spiele/ Dr. Simone Michel-von Dungern, Ausstellungspakete
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Europa, 1914 bis 1918: Granaten explodieren, Kugeln pfeifen durch die Luft, Soldaten kauern in Schützengräben. Millionen sterben. Der Erste Weltkrieg tobt auf dem Kontinent. Lazarette sind überfüllt. „Es gibt allerlei zu tun auf den Stationen. Die Patienten, die jetzt noch bei uns liegen, sind durchweg schwerer Verwundete [...]. Einen armen Kerl habe ich dabei, dem ist der Darm seitlich aufgerissen“, schreibt der Assistenzart Dr. Rudolf Theis Eden 1915 an seine Frau. Doch es gibt auch Momente, in denen die Menschen den Krieg kurz vergessen. In einigen Lazaretten ist mit der Feldpost ein neues Gesellschaftsspiel eingetroffen. Es heißt „Mensch ärgere Dich nicht“ und fasziniert die Patienten. Begeistert werfen sie Würfel, ziehen bunte Holzfiguren übers Brett und schlagen mit Hingabe die Figuren der Gegner. Das Spiel vermittelt den demoralisierten Soldaten eine tröstliche Botschaft: „Es bestätigt die Einsicht, dass über Sieg und Niederlage allein das Schicksal entscheidet, strategische Fähigkeiten oder Kampfmoral aber keine Rolle spielen“, schreibt der Kunsthistoriker Andreas Tönnesmann in seinem Buch „Monopoly. Das Spiel, die Stadt und das Glück.“

Hutkarton als Spielbrett
Entwickelt hatte das Spiel 1907 ein gewisser Josef Friedrich Schmidt, der spätere Gründer des „Schmidt Spiele“-Verlags. Der Händler lebte in München, im damaligen Arbeiterviertel Giesing, rechts der Isar. Schmidt kannte das alte indische Laufspiel „Pachisi“ und wahrscheinlich auch dessen englische Weiterentwicklung „Ludo“. Davon ließ er sich inspirieren. Das erste Spielbrett bastelte Schmidt in seiner Wohnküche aus einem verbeulten Hutkarton. Die Figuren schnitzte er aus Holzklötzchen. Seine Frau und drei Söhne waren begeistert von „Mensch ärgere Dich nicht“, genau wie später die Soldaten in den Lazaretten. Doch die handgefertigten Spiele überzeugten nie die Massen. Schmidt ließ sich davon nicht entmutigen. Er war überzeugt von seinem Spiel und startete 1914 erst die Massenproduktion und dann eine ungewöhnliche Marketingkampagne. Er verschickte die ersten 3.00 Exemplare als Sachspenden an Lazarette. So lernten Soldaten das Spiel kennen und lieben. Als sie nach dem Krieg ihre Tornister auspackten, befand sich darin auch „Mensch ärgere Dich nicht“. Das Spiel verbreitete sich schnell in Deutschland. Es kostete nur 35 Pfennige, weniger als ein Pfund Zucker. Bereits 1920 standen mehr als eine Million Kartons in den Wohnzimmern der Deutschen.

„Mensch ärgere Dich nicht“ an der Front
Das Spiel begleiteten die Deutschen nicht nur durch den Ersten, sondern auch durch den Zweiten Weltkrieg. Der Soldat Johannes Hamm schrieb 1942 seiner Frau: „Ich sitze am Ofen in einer neu gekalkten guten Stube eines Fischerhauses. [...] Der Fischer ist übergelaufen von den Roten und wurde von den deutschen Soldaten fortgebracht. Die junge Frau des Fischers [...] ist dankbar, aber wir können nicht miteinander sprechen, da sie mein russisches Kauderwelsch nicht kapiert. [...] Mein Wachtmeister, der nebenan wohnt, macht sich wohl an sie heran. Er spielt ,Mensch ärgere Dich nicht’ mit ihr.“ Der Deutsche Xaver Fuchs besuchte ebenfalls 1942 einen Kriegsoffiziersbewerber-Lehrgang. In seinem Tagebuch notierte er: „Draußen trübes Wetter. Wir lassen es uns auf unserer Bude gut gehen, stehen um halb zehn auf, schreiben dann und hören nebenher Radio. Das ist ein Leben. Abends spielen wir ,Mensch ärgere Dich nicht’.“ Ein Jahr später marschierte Fuchs der Front entgegen. „Übernachteten in Erdlöchern. Sollen Morgen angreifen. Letztes Ausruhen.“ Es war sein letzter Eintrag. Fuchs starb am 4. August 1943.

Rot gegen grün, Russen gegen Deutsche
Nicht nur Soldaten kannten das Spiel, sondern auch Kinder in der Heimat. „Mitte Januar 1945 hatte die Großoffensive der Sowjetarmee im Weichselbogen Richtung Deutschland begonnen, wie in den ,Breslauer Nachrichten’ zu lesen war. [...] Ich selbst [...] las täglich die neuesten Zeitungsmeldungen zu den Kriegsereignissen in Schlesien und anderswo und spielte allein ,Mensch ärgere Dich nicht’ mit zwei Farben: grün und rot. Das waren die Deutschen und die Russen. Wer gewann, der würde diesen Krieg gewinnen. Mit solch einfältigen Gedanken versuchte ich, unser Schicksal zu erforschen“, erinnert sich Wolfgang Gottschlich. Und Margot Weinand aus Neukirchen schreibt über ihre Kindheit im Zweiten Weltkrieg: „In der Wohnung wartete Opa auf uns. Er hatte auf einem kleinen Tisch die Spiele ,Mensch ärgere Dich nicht’, ,Mühle’, ,Dame’ und ,Schwarzer Peter’ hingelegt. Der Tisch war mit Stuten und Tee gedeckt. [...] Nach dem Essen spielten wir. Oma tröstete den Verlierer und meinte: ,Das müsst ihr auch lernen, denn das gehört dazu. So lernt ihr, auch zu gewinnen.“’ Wieso das so sein sollte, habe ich nie verstanden.“

Josef Friedrich Schmidt erlebte noch das Kriegsende, starb aber 1948. Sein Spiel hat bis heute überlebt. „Mensch ärgere Dich nicht“ ist ein Klassiker geworden. Das „Today Art Museum“ in Peking zeigt es im Rahmen einer Sonderausstellung sogar als Beispiel für einen typisch deutschen Alltagsgegenstand – der die Deutschen durch zwei Weltkriege begleitete und hoffentlich nie wieder im Krieg zum Einsatz kommt. Und Google ehrte es heute sogar mit diesem Doodle.

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