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[Angespielt] Churchill: Spieleindruck

Kritiken und Rezensionen: Wie ist Spiel XY?
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Peterlerock
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[Angespielt] Churchill: Spieleindruck

Beitragvon Peterlerock » 6. November 2015, 18:09

Ich kürze den Text etwas, ist ein längerer Artikel geworden. Wer noch einen Absatz über GMT an sich und den Verlauf des Testspiels lesen will, möge sich hier einfinden:
https://peterrustemeyer.wordpress.com/2 ... churchill/

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Churchill ist eine asymmetrische “Konferenzsimulation” im zweiten Weltkrieg, aber kein “Kriegsspiel” im eigentlichen Sinne, auch wenn eine Menge gekämpft wird.

Die drei Spieler schlüpfen in die Rolle von Roosevelt, Stalin und – natürlich – Churchill. Sie ringen über mehrere historische Konferenzen hinweg am Verhandlungstisch um Zugeständnisse, um den zweiten Weltkrieg möglichst vorteilhaft zu beenden. Amerikaner und Briten spielen sich dabei etwas mehr gegenseitig in die Hände, die Russen sind oft eher der “Njet!” rufende Dritte, aber es gibt Streitpunkte und Gemeinsamkeiten zwischen allen Parteien.

Für mich ist das Herausstellungsmerkmal an Churchill die Siegbedingung:

Man will zwar gewinnen, aber bloß nicht zu hoch. Wenn ein Spieler einen zu hohen Vorsprung hat, gewinnt der Zweitplatzierte. Der Krieg muss beendet werden, aber alle Parteien müssen “glücklich” sein und sich respektiert fühlen.

Das führt dazu, dass man sich gegenseitig weitaus mehr helfen muss, als man das eigentlich möchte, und dass Spieler teilweise sogar aktiv und bewusst ihre Siegespunkte “abgeben”. Eine derartig motivierte Kooperation zwischen drei konkurrierenden Spielern habe ich noch nie gesehen, und dieser Aspekt gefällt mir ausgesprochen gut.

Möglich sind 1-3 Spieler (theoretisch kann jede Partei durch einen “Bot” ersetzt werden, und man könnte wohl sogar drei Bots gegeneinander anrennen lassen). Aber ich denke, man sollte das schon in Vollbesetzung spielen.

Spielablauf

In jeder Konferenz spielen die drei Spieler möglichst geschickt ihre Politikerkarten aus, um in einer Art “Tauziehen” Themen zu besetzen und dadurch Vorteile zu erringen. Die Themen an sich werden dabei ebenfalls von den Spielern aus einer größeren Auswahl ausgesucht.
Bild
Der Konferenztisch, Bild von bgg

Wenn du auf ein “Thema” (die kleinen Pappmarker) bietest, ziehst du es aus der Mitte oder von den Mitspielerleisten in deine Richtung, und zwar um die Stärke deiner Politikerkarte (1-7 Felder). Wenn es am Ende der Konferenz auf deiner Leiste liegt, gehört es dir, und du profitierst in irgendeiner Form.

Das spielt sich sehr schön und ist eigentlich recht simpel, und das alte Problem mit “wenn zwei sich streiten…” kommt hier zwar durchaus vor, ist aber auch durchaus thematisch und gewollt.

Die Verbindungslinien zwischen den Portraits sind “globale Themen”. So wie die schwarzen Marker gerade liegen, kann Churchill zu Roosevelts Mißfallen fröhlich weiter alle möglichen Länder kolonialisieren, während Stalin Osteuropa umklammert hält und Churchill ein “freies Europa” verweigert.

Nach jeder Konferenz folgen – eher als Ergebnis denn als eigenständiges Spiel im Spiel – die Auswirkungen auf den zweiten Weltkrieg auf der anderen Spielfeldhälfte:
Bild
Die Schlachtfelder des zweiten Weltkriegs, Bild von bgg

Wenn Stalin etwa Roosevelt Zugeständnisse abgeluchst hat, kann er die überlegene amerikanische Produktion nutzen und hat bessere Chancen, Deutschland vor den Allierten zu erreichen.

Hier werden nach einem gewissen Algorithmus die Feindeinheiten an sieben Frontlinien (links/unten Japan, rechts/oben Deutschland) aufgeteilt, und man würfelt darum, ob eine Front sich nach vorne bewegt, wobei zugeloste Feindeinheiten die Chance verringern, und Produktionsmarker die Chance erhöhen. Es besteht also leider ein gewisses Restrisiko, dass man trotz einer erfolgreichen Konferenz keine Fortschritte macht, was ich persönlich eher unschön finde.

Auf den Frontlinien sind Siegespunkte aufgedruckt, aber – natürlich, typisch GMT – mit komplexen Bedingungen: “3 Siegespunkte für UK/US, wenn die Pazifikflotte schon auf Feld blablabla ist” und ähnliches.

Neben den Frontlinien kann man auf dem Bild runde Spielsteine sehen, das sind Länder, die man (für Siegespunkte) zu Marionettenstaaten machen kann, wenn man sich in der Konferenz passende Themen sichern konnte.

Diese gesamte Phase ist relativ automatisiert, man hat zwar Einfluss und Entscheidungen, aber nicht gerade viel, das meiste davon spielt sich fast von alleine. Die Konferenzphase steht eindeutig im Vordergund.

Nach der letzten Konferenz- und Kriegsphase wird dann eine ellenlange (wirklich abschreckend lange) Siegespunktematrix konsultiert, mit zig Abhängigkeiten und Teilbedingungen, und einer der Spieler hat dann eben gewonnen.

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Bewertung

Ich muss das Spiel für ein halbwegs fundiertes Fazit definitiv noch mehrere Male spielen. Dass ich darauf aber überhaupt Lust habe, sollte zumindest ein Indiz dafür sein, dass Churchill eine Menge richtig macht.

Auf Boardgamegeek liegt es auf einer grundsoliden 8/10, und ich glaube erahnen zu können, warum dem so ist.

Das Spiel an sich ist thematisch sehr dicht, und – für GMTs Verhältnisse – recht einfach zu erklären und zu spielen, aber sehr sicher schwer zu meistern. Ich nehme schwer an, dass ich das Spiel sehr oft in der gleichen Konstellation spielen müsste, bis wir hier wirklich ein gleichwertiges Duell um den Sieg spielen.

Für Leute, die komplexe Spiele mögen, und Zugriff auf eine ähnlich motovierte Spielergruppe haben, würde ich mir aber jetzt schon erlauben, eine Empfehlung auszusprechen.

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