Beitragvon Marten Holst » 3. Juli 2005, 22:03
Moin,
> Wenn mein Gegner etwas macht, was ich nicht bedacht habe,
> hat das wohl kaum was mit "Glück" oder "Pech" oder
> "Unsicherheitsfaktor" zu tun.
in der Theorie mag ich Dir zustimmen, in der Praxis hingegen nicht. Da viele Spiele (eigentlich alle ernst zu nehmenden) eben nicht mal so eben komplett durchrechenbar sind - auch wenn der eine oder andere gelegentlich so wirkt, als wolle er zumindest einen ehrenwerten Versuch unternehmen.
Man braucht also beim Betrachten einer Stellung und ihrer Optionen Algorithmen. Solche, die einem aus einer Stellung eine Information liefern, wie erstrebenswert diese Stellung ist, aber auch solche, die unsinnige Gedankengänge rechtzeitig abbrechen, bevor man zu viel Zeit und Hirnschmalz darauf verwendet "Was wäre wenn ich jetzt einfach mal..." zum Beispiel Geld zu Fenster schmisse. Diese Algorithmen sind in jedem von uns, und sie sind irgendwo fehlerhaft. Unter Umständen entgeht einem so ein schwieriger, aber durchaus "zwingender" guter Zug, weil man einen Zug zu früh das Berechnen mit einer groben Einschätzung abgebrochen hat. Ich nenne das Pech - denn ein Algorithmus, der diesen Abbruch verhindert hätte, wäre vielleicht sonst einfach "zu langsam".
Oder beim Schach. Jeder Schachspieler kennt vom Prinzip her die folgende Situation: Im 11.Zug ziehe ich einen harmlosen Bauern nach h3 zwecks einer Befragung. Im 67.Zug ergibt es sich dann, dass ich dank dieses Zuges ein Schlupfloch habe und somit einen durchschlagenden Angriff aufbauen kann - wozu mir sonst die Zeit gefehlt hätte. Das nenne ich "Glück". Niemand sah diesen Effekt voraus, noch konnte man es, niemand hat sich für 56 Züge dafür Interessiert, dass der Bauer auf h3 statt h2 steht, weil es für Taktik und Strategie egal war.
Theoretisch kann man sowas alles durchrechnen - dann auch alle Glücksspiele erwartungswertoptimiert spielen und ähnliches. Aber in der Praxis ist es unmöglich, alle Variablen zu berücksichtigen. Und mal ist die eine wichtiger, mal die andere. Und wenn man sich um die falsche gekümmert hat, dann ist das für mich eher Pech oder Glück des Gegners, als im engeren Sinne "schlechtes Spiel".
Was Deine sonstigen Überlegungen anbelangt, so finde ich sie zwar einen Tick übergeneralisiert, teile sie aber. Manche Spiele würden - bei Ersetzen eines sehr durch einen weniger oder gar nicht zufälligen Mechanismus - entweder an Überlegungsbreite verlieren (wie Du ja ausgeführt hast), oder zu vergrübelt werden - oder auch ein charmantes Moment verlieren.
Tschüß
Marten