Beitragvon Peter Gustav Bartschat » 7. April 2007, 15:35
peer schrieb:
> Außerdem -und hier mal eine ernste Notiz - liegt es in der
> Natur des Menschen Änderungen abzulehnen. Besonders wenn
> Freiheiten eingeschränkt werden.
Das ist ein sehr interessanter Punkt, lieber peer, über den ich schon häufig nachgedacht habe.
Es gibt Indizien, die für eine grundsätzliche Ablehnung alles Neuen sprechen. Insbesondere fällt das bei der alle Generationen wieder auftauchenden Empörung über Kleidung, Sprache und Musikgeschmack der nächsten Generation auf. Auch technische Neuerungen werden oft abgelehnt - das kann bis zu solchen Ereignissen gehen, wie die Abschaffung von Feuerwaffen in der japanischen Armee im 17. Jahrhundert (die die Konsequenz hatte, dass es in ganz Japan im 19. Jahrhundert keine Militäreinheit mehr gab, die sich der aus nur fünf Kanonenbooten bestehenden amerikanischen Flottille entgegen stellen konnte, die im 19. Jahrhundert die Öffnung der japanischen Häfen für amerikanische Handelsschiffe erzwang).
Aber dann kommt das große ANDERERSEITS:
Beim Ende der letzten Eiszeit vor ca. 12.000 Jahren waren alle Menschen auf dem gesamten Planeten zu Fuß unterwegs, lebten als Jäger und Sammler sozusagen von der Hand in den Mund, und das einzige Speichermedium für Informationen war das Gedächtnis alter Menschen. Heute gibt es ein kompexes System aus öffentlichem Verkehr und Individualverkehr, nur ein verhältnismäig kleiner Teil aller Menschen ist in der Nahrungsmittelproduktion tätig, und Informationen aus allen Wissensgebieten sind schnell und leicht verfügbar.
Wenn es in der Natur des Menschen läge, Änderungen abzulehnen, wäre es dann überhaupt möglich gewesen, dass das Leben von Menschen sich so ändern kann?
Ich habe vor kurzen ein fesselndes Buch zur Entwicklungsgeschichte des Menschen gelesen: "Arm und reich. Die Schicksale menschlicher Gesellschaften." (ISBN 978--3-596-17214-6) von Jared Diamond, Professor für Evolutionsbiologie in Los Angeles. Er geht darin den Fragen nach, warum sich ausgerechnet die europäische Kultur in den letzten 500 Jahren als so dominierend erwiesen hat, warum zum Beispiel nicht die Inkas Spanien erobert haben, sondern die Spanier das Inka-Reich; warum Mesopotamien, das etwa bis zum Jahr 1.000 einen großen Vorsprung an Wissen und Technologie vor Europa besaß, heute zu einem solchen sozialen und politischen Problemgebiet geworden ist; warum in Afrika die Bauern die Jäger und Sammler verdrängten, auf Grönland aber die Jäger und Sammler die Bauern; und vielen vergleichbaren Fragen mehr.
Es würde zu weit führen, würde ich hier auf die vielfältigen Ursachen eingehen, die Diamond benennt (er trennt übrigens sympathischer Weise immer sehr klar zwischen dem, was wissenschaftlich beweisbar ist, und was er aufgrund bestimmter Indizien nur vermutet), darum will ich hier nur kurz den Punkt ansprechen, der sich mit der Frage beschäftigt, ob Menschen grundsätzlich Fortschritte ablehnen, oder ob nur die Bewohner bestimmter Kontinente das täten.
Es gibt ja durchaus Hypothesen, dass die Bewohner Europas - oder hellhäutige Menschen, wo immer man die Ursache sehen will - lernfähiger seien oder Neuerungen offener gegenüberstünden. Diamond kann allerdings eine Vielzahl von Beispielen benennen, in denen Neuerungen sich trotz erkennbarer Vorteile in Europa nicht durchsetzen konnten (z.B. eine andere Anordnung von Buchstaben auf der Schreibmaschinen-Tastatur, die schnelleres Schreiben ermöglicht, weil häufig unmittelbar aufeinander folgende Buchstaben dort von verschiedenen Fingern bedient werden), und Neuerungen sich bei anderen Völkern sehr schnell und mit großem wirtschaftlichen Erfolg durchsetzten (z.B. Schafzucht bei den Navahos, die heute "traditionelle Navaho-Wolldecken" in alle Welt verkaufen, obwohl sie traditionell Wolle als Rohstoff gar nicht kannten).
Annahme oder Ablehnung von Neuerungen scheint keine grundsätzliche Eigenschaft des Menschen zu sein, nicht einmal eine grundsätzliche Eigenschaft bestimmter Kontinente, Völker oder Religionen. In jeder Gruppe stehen Annahme und Ablehnung stets gleichzeitig nebeneinander, es setzt sich nur eine dominante Interessensgruppe durch - und dass können mal die Befürworter, mal die Ablehner sein. Aber schon in der nächsten Generation kann sich das ändern: Dann setzt sich vielleicht eine zunächst abgelehnte Neuerung doch durch (wie die Dampfmaschine ab ca. 1770, obwohl es schon seit ca. 1720 funktionierende Dampfmaschinen gab) - oder eine bereits angenommene wird wieder abgeschafft (wie die Feuerwaffen in Japan).
Worauf wollte ich nochmal hinaus?
Ach ja: Wenn hier die Unheilspropheten ihre gemeinsame Elegie über den Untergang des Forums anstimmen, dann steht das für gar nichts, außer dafür, dass es sich bei dieser Gruppe halt um Ablehner von Änderungen handelt. Wir sehen ja, dass es hier auch einiges an Zustimmung für die Registrierung gibt, und auch die steht nur für die Zustimmung der Zustimmenden, nicht für eine allen Menschen eigene Wesensart.
Ein völlig andere Frage, die ganz unabhängig von allen Hoffnungen und Befürchtungen ist, ist natürlich die tatsächliche Entwicklung des Forums. Aber die lässt sich nur auf eine einzige Art ergründen, indem man nämlich abwartet und beobachtet was passiert.
Gewiss ist nur eins: So Mancher wird später verkünden, er hätte es ja gleich gesagt.
Und was die Einschränkung von Freiheit betrifft: Viele Menschen scheinen das nicht als Problem zu empfinden, denn zu häufig wird in kritischen Situationen eher der Ruf nach dem starken Mann laut, statt dem Ruf nach einer gemeinsamen Problemlösung. Zudem scheint mir die hierarchische Struktur, die sich in allen größeren Menschengruppen herausbildet, ein Indiz dafür zu sein, dass Freiheit - anders als es in vielen Lippenbekenntnissen zu hören ist - insgesamt gar nicht als ein so hohes Gut angesehen wird. Dass man selbst immer gern tun und lassen möchte, was einem gerade in den Sinn kommt, ist ein anderer Punkt: "Freiheit" bedeutet ja zunächst einmal den Respekt vor der Freiheit aller Anderen (zum Beispiel die Freiheit der Herausgeber des spielbox, die Bedingungen für die Nutzung eines von ihnen betriebenes Forum selbst festzulegen) und schon da hapert´s dann oft.
Mit einem lieben Gruß
Gustav